Mittwoch, 18.04.2001 - auf zum Autoreisezug München-Narbonne.
Die Anfahrt nach München klappte tadellos. Ich kam nach 200km über Weißenburg, Eichstädt, Ingolstadt, Pfaffenhofen trocken und kaum durchgefroren just zum Ladebeginn an.

Verdammt niedrige Rampe und ohne Helm hätte ich reichlich Beulen am Schädel. Nach einigem Hin und Her landete ich in meinem Abteil. Und dann ging das Warten los: 2 1/2 Stunden zur Abfahrt. Das nächste Mal muss man das anders machen: Laden - was unternehmen - und dann zur Abfahrt erst wieder einfinden. Nun gut, man lernt ja.

Ich war der Erste im Abteil. Langsam fanden sich dann auch die anderen Mitreisenden ein, eine erfreulich angenehme Gesellschaft (was ich von den Bikern - viele junge mit stapelweise Sixpacks Dosenbier- nicht so uneingeschränkt sagen kann):

Zunächst ein älteres Ehepaar, gebildet, und ab Stuttgart dann noch eine 80jährige, absolut fitte Oma, die nach Spanien fuhr, um sich um ihr Haus zu kümmern.
Ich kam bis zum Zapfenstreich - so um 23:00 Uhr - nicht zum Lesen, weil wir uns angeregt unterhielten.

Nachts durchzuckte mich plötzlich der Gedanke, ich könnte beim Gute-Nacht-Schoppen mit meinem männlichen Mitreisenden vor’m Bettgehen meine Jacke im Speisewagen hängen gelassen haben - mit allem - Gott sei Dank nur fast allem drin!
Vor Schreck fast aus meiner Mittellage gefallen, in Socken und langer Biker-Unterhose durch den Zug zum Speisewagen getaumelt und auf ein verlassenes Schlachtfeld gestoßen: Zwar keine Toten, aber leere Bierdosen, Berge von Schalen ausgepulter Pinienkerne, verdreckte, zerknüllte Tischdecken und auf den Boden gekotzt - unglaublich!!!

Das sind so Momente in denen ich mich frage, ob Wohlstand für Jedermann wirklich eine Errungenschaft ist, wenn die Folge darin besteht, dass jeder Prolo genug Kohle hat, um seine Form des Seins weltweit vorlaut sichtbar zu machen.

Die oben erwähnten, biersaufenden Vandalen hatten den offenstehenden, aber ab 23:00 Uhr nicht mehr bewirteten Speisewagen zu einem Gelage genützt und .....

.....meine Jacke war weg!

 

Personal-Ausweis, Führerschein, KFZ-Schein, Firmen-Kreditkarte, ADAC- und AOK-Karte, Tickets und 700,- DM.

Mein Handy (nicht gesperrt!), das Satelliten-Navigations-System und der Motorrad Zweit-Schlüssel!


Endgültig weg, wie alle morgendlichen Bemühungen, den ehrlichen Finder per Lautsprecheransage zur Herausgabe zu animieren, belegten. Kennern der Szene war klar: leergeräumt - Jacke aus dem Fenster. So macht man das. Ich hatte Zeit nachzudenken, was alles drin war.

Zum Glück hatte ich noch meine Scheckkarte und die zweite Kreditkarte getrennt verwahrt und - in der Langeweile des Wartens einer inneren Eingebung folgend - gleich zum Start der Zugfahrt etwas getan, was ich sonst nie tue: Ich hatte meine gesamten Communicator-Daten auf den Sicherungs-Chip gespeichert und den rausgenommen und anderswo verwahrt!

Ich hatte mich ziemlich rasch mit dem Unabänderlichen abgefunden und eine Bestätigung meiner Existenz und des Ereignisses von der Zugbegleiterin in Französisch schreiben und abstempeln lassen. Die Polizei in Narbonne fertigte mir völlig unbürokratisch eine papier, das mir den Verlust der Papiere bestätigt . Mit diesem Ersatz reise ich nun durch die Lande. Die Kreditkarte half mir ausreichend zu Geld und Identität im Hotel.

Übrigens Französiche Polizei: Mein schwerfälliger Versuch, die Frage zu formulieren, wo ich mir denn eine neue Motorrad-Jacke würde kaufen können, brachte mir eine der Erfahrungen, die mein gerade deutlich beschädigtes Menschenbild wieder etwas zurecht rückten. Ein Polizist unterbrach seinen Versuch, mir die Fahrstrecke auf einem an der Wand hängenden Stadtplan zu erklären und gab mir zu verstehen, dass er sein Auto rausholen und vor mir her zum Motorrad-Shop fahren werde!

Gesagt getan und ehrlich: Das war ein weiter und so verzwickter Weg zu einem versteckt liegenden Motorradladen in den Außenbezirken von Narbonne - ich hätte den nie gefunden!
Mit einer neuen Motorrad-Jacke ausgestattet konnte nun der eigentlich Teil der Reise losgehen. Das Zug-Abenteuer lag hinter mir und ich subsummiere es unter den Spruch:

Leben ist, wenn was dazwischen kommt.


 

Wir sind eine Gesellschaft auf der untersten Moralstufe.
Will sagen:
Eine (Un)-Tat unterbleibt nur dann, wenn der Täter befürchten muss, erwischt zu werden.
Gelernt habe ich bezüglich des Autozuges:
  • Wenns wieder nach Avignon/Narbonne geht, dann in Stuttgart-Kornwestheim zusteigen.
  • Lieber im Schlafwagen reisen, auch wenn’s teurer ist.
  • Auf die Sachen aufpassen - in der Anonymität gibt’s keine Moral mehr und das Risiko eines Böslings, erwischt zu werden, ist gering..
 
 
 
 
Prolog - Autoreisezug nach Narbonne