Die Story mit dem Hinterreifen hat mich ja nun wider Willen nach Madrid getrieben.
Ganz früh fuhr ich los, um nicht das Wochenende festgenagelt zu sein und
trotz einiger Verzögerungen habe ich mein Bike zum Aufziehen neuer Reifen
um halb eins abgeliefet. Da waren die Monteure Mittagessen. Bis 14:00 Uhr.
Um 16:00 Uhr werden die neuen Reifen aufgezogen sein und 382,23 € + 10 € Trinkgeld den Besitzer gewechselt haben. |
Saftig teuer, wie ich ahne und wie sich nach Rückkehr Deutschland bestätigen wird. |
In diesem Moment , während ich gegenüber in der Cafeteria des Corte Ingles im 6. Stock auf mein Essen warte, das Treiben draußen beobachte und diese Zeilen notiere, montieren sie.
Ich erzähle, wie's heute weiter ging. Zunächst mal bestes Wetter, wenngleich anhaltend kühl (Starttemperatur in Ciudad Rodrigo 4 Grad.) Auf den 250 km bis Madrid ging es vorbei an Salamanca, vor Avila nordöstlich auf die Schnellstraße durch die Sierra de Guadarrama, wo sich die Schneewolken von Norden kommend stauten, keine besondere Vorkommnisse.
Die, die mir dann das Leben etwas schwer gemacht haben, habe ich mir selbst und der Bauwut (davon weiter unten) zuzuschreiben.
Also in die Stadt rein, immer den Vorgaben meines Navi folgend, von einer Abzweigung der Stadtautobahn zur nächsten, mal drunter durch, mal oben drüber, mal links, mal rechts und irgendwann war es - wie zu erwarten - so weit:
statt halblinks ganz links in den nächsten Verteilerzirkus abgebogen und schon war's geschehen.
Daraus entwickelte sich eine Irrfahrt über nur 18 km, für die ich aber glatt 1 Stunde und 6 Minuten gebraucht habe - Befragen von Passanten nach dem Weg eingeschlossen. Wenn man sich den Plan und den Track-Verlauf anschaut, kann man das kaum verstehen.
Aber Du, der Du das überheblich festzustellen geneigt bist, bedenke: Hinterher und aus der Vogelperspektive sieht die Welt immer übersichtlich aus. Entscheidend war, dass nahezu alles, was Du da auf dem harmlosen Plänchen siehst, ein chaotisches Baugebiet gigantischen Ausmaßes ist (es erstreckt sich über eine Fläche von ca. 6.000m x 4.000m, also ca. 24 km²), wobei die Straßen zwar geplant aber nur teilweise auch realisiert sind, die Verkehrsführung aber wegen Bauarbeiten oft unterbrochen ist, Umleitungen den geplanten Weg durcheinander bringen und überraschende Abzweigungen oder Kehrtwendungen nötig werden, weil die Verbindungen noch gar nicht existieren. |
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Wenn ich nicht Hinweise wie Einbahnstraßenrichtung oder Ampelschaltungen von irgendeinem Zeitpunkt an einfach ignoriert hätte, ich wäre kaum an mein Ziel gekommen.
Erschwerend, wenn nicht entscheidend kam hinzu, dass BMW-Madrid, mein Ziel, auf der Avda. Burgos 133 zwar existiert - und zwar als hochfuturistischer, glitzernder Neubau, wie sich herausstellte - aber die Adresse nicht! Ich konnte mein Navi also gar nicht auf mein Ziel einstellen, sondern nur auf Hilfsziele, die ich auch fand, wo die dort erfragte Auskunft nach BMW-Madrid, Avenida de Burgos 133, darin bestand, dass man das auch nicht wisse, aber das müsse wohl da und da liegen (Auskunft eines Wachmannses der Renault-Zentrale Spanien, selbst gelegen an der Avda. de Burgos 78). Der Weg dorthin sei allerdings nicht direkt erreichbar wegen der Bauarbeiten allenthalben, aber sozusagen hintenrum dann schon...
Die dollste Verbindung übrigens, die mir das Navi vorgegeben hat, ist schildernswert (Ich habe sie im Plan türkis gekennzeichnet): Da ging es unter der Bahn durch. Ein Rundbogen, vor dem ein Laster stand. Gut 450 m entfernt am anderen Ende, war die Rundbogenentsprechung zu sehen, klein und vielversprechend hell. Dazwischen absolute Dunkelheit und irgendwo entgegenkommend ein tanzendes, sich eher tastend voranbewegendes Scheinwerferpaar, verdächtig schwankend und ruckelnd, näherkommend, aber sehr, sehr langsam. Schotter und Lehm am Eingang. Ich frage den wartenden Lasterfahrer, ob man da durch könne, was er bejahte. Er müsse allerdings den entgegenkommenden Laster durchlassen. Wegen der Enge. Ich könne allerdings fahren. Was ich auch tat. Stockdunkel, ich sag’s Dir. Zustand: ausgetrocknetes Bachbett, im Querschnitte U-förmig, aber in der Mitte wegen Löchern nicht befahrbar, sondern nur im seitlich rund aufsteigenden Winkel des U. Auf dem halben Weg Begegnung mit dem entgegenkommenden Laster, die ich schüchtern an der Seite, so weit wie möglich in die U-Rundung geschmiegt, stehend über mich ergehen oder an mir vorübergehen ließ, um dann geblendet meinen Weg, starren Blickes aufs Leben versprechende Licht am Ende des Tunnels gerichtet, weiter zu ertasten, halb stehend, um den überraschenden und nicht erkennbaren Löchern gewachsen zu sein. All das sozusagen im Herzen Madrids, dieser Wahnsinnsmetropole. |
Beim Mittagessen, da oben im 6. Stock mit Blick über das Treiben, wird mir noch mal so richtig vor Augen geführt, was hier in Spanien abgeht.
Ich habe nach 35 Jahren wieder mal Angulas gegessen Baby-Aale mit Chili und Knoblauch in Olivenöl siedend heiß serviert. - köstlich !!! - |
Die Spanier drehen wirklich an einem ganz, ganz großen Rad, und ich bin überzeugt, dass keiner von den Beteiligten weiß, wo das hindreht. Jeder sieht sein Ding - keiner das Ganze. Das ist mein Eindruck, der sich heute mehrfach bestätigt hat. Gerade in und um Madrid ist das unübersehbar.
Aus meinem Ausblick wirklich nicht überschaubare Ausdehnung einer Agglomeration an Neubauten: Wohnansiedlungen der gigantischen Hünherhaltungsart und dazu die Consumtempel für die dort sich einfindenden abertausende Neubewohner. Madrid wächst affenartig in allen Himmelsrichtungen. Das ist wirklich unglaublich. So gesehen, war ich froh, dass mich die Reifenorgie hier her gezwungen hat, um mit eigenen Augen zu sehen.
Irgendwie scheint mir die Bauweise den ganzen spanisch Prozess wiederzuspiegeln: Gigantisch, chaotisch, optimistisch wird gebaut.
Wie schon von ganz weitem zu sehen, 4 Bürotürme die, obwohl noch im Bau, schon jetzt den Anschein erwecken, ganz Madrid zu überragen.
Dazu alles überzogen von Rohbauvierteln dazwischen schon fertige, erkennbar
sogleich nach Fertigstellung in Besitz
genommene Wohnblöcke von Baustellen
und -Lärm umzingelt, die an sozialistische Dimensionen erinnern, wie sie bei uns in der ehemaligen DDR gerade abgerissen werden, dazwischen breite Straßen und Freiflächen - schmucklos und erkennbar Ausdruck einer Vorschrift, nicht eines Bedürfnisses derer, die bauen oder da wohnen werden.
Die Rohbauten bestehen aus pfahlbauartigen Gerüsten aus Beton, die zuletzt mit irgendeiner eindrucksvollen Außenhaut aus modernen Materialien wie Glas, Metall, Ziegelattrappen überzogen viel her machen, denen man aber angesichts der Konstruktions- und Entstehungsweise mitgibt, dass sie nicht lange halten werden.
Wie das ganze System Spanien, dessen Dynamik nichts mit Solidität und Dauerhaftigkeit oder Langfristigkeit zu tun zu haben scheint. Na wenn das man gut geht, denn Spanien ist Europa und untrennbar verbunden, habe ich mir gedacht.
Als ich aus Madrid gen OstNordOst (oder auch Richtung Zaragoza) ausfuhr - Stress vermeidender weise erstmal auf der großen Ausfallstraße - wollte die Bebauung einfach nicht aufhören. Plötzlich rollte ich im 3-spurigen Strom der Autoschlange an Alkala de Henares vorbei, eine eigene Stadt an der Strecke, etwa 20 km weiter. Ein Lebensbrei.
Und so ging es weiter - km für km. Neubauten für Industrie und Handel. Protzig scheußlich und riesig endlos die Straße begleitend in die Landschaft geklotzt. Distributionslager mit 30 LKW-Portalen und mehr, fussballfeldgroße Hallen, eine nach der Anderen. H&M, Kühne und Nagel und endlos Spanische Firmennamen, die mir nicht bekannt sind. Und es wird gebaut und gebaut und gebaut. Eine unglaubliche Dynamik - keine Spur von Existenz oder Zukunftsangst. Weiter geht’s. Schneller, höher, größer. Beängstigend und beeindruckend in der dahinter steckenden Lebenskraft, die sich rücksichtslos und bedenkenlos austobt, Platz schafft. Nix zu spüren von Deutscher Ängstlichkeit.
Hinter Guadalajara, etwa 30 km vor meinem Zielort bin ich abgefahren und habe mich durch die Landschaft geschlängelt, wo das eben Geschilderte gar nicht zu existieren scheint. Um die nächste Ecke eine Burgruine und ein paar km weiter noch eine. Dazwischen Landwirtschaft, Dörfchen, Ruhe, Gelassenheit, Stillstand. Ein irrer Kontrast und beides ist Spanien und Ausdruck des Lebensgefühls einer Bevölkerung. Die einen treiben voran, werden getrieben sind rast-, scheinen ziellos, die anderen merken nichts davon, so scheint es. Das Land ist riesig groß und dünn besiedelt. Die Zukunft ist auf die Verkehrsadern fixiert, die Menschen strömen in die Metropolen und finden sich dort denaturiert und wurzellos in einem neuen Hühnerkäfig wieder, sind verheiratet, blass und verhuscht und versuchen als Bedienung im Cafe des Corte Ingles zum Lebens-Unterhalt und Miete im Hühnerstall beizutragen.
Als ich das Mädchen, das mich beim Mittagessenbedient, frage, wie dieser weiß verschneite Bergzug in der Ferne denn heiße, schaut sie mich aus abgeschafften Augen groß an und antwortet, dass sie das nicht wisse und sich noch nie gefragt habe......